Der Kasper

Die Frohe Botschaft

oder

wie der Kasper nicht nur sonntags

die Unsterblichkeit der Freude vorlebt.

von

Wilfried Plein

 

Teufel: Ich möchte deine kleine Kasperseele.

Kasper: Is gut, aber ich hab meine Seele nicht bei mir, ich muss sie erst holen.

Teufel: Wie, du hast sie nicht bei dir?

Kasper: Ja, im modernen, seelenlosen Zeitalter haben nur noch die Dummen ihre Seele bei sich.

ab

Teufel: Jetzt holt der Kasper seine Seele, dann hat die arme Seele Ruh.

Kasper kommt mit einem Eimer zurück

Teufel: Was ist denn das?

Kasper: Dat is en Eimer, meine Seele is nämlich im Eimer"?

Der Teufel schiebt den Kasper zur Seite und schaut in den Eimer

Teufel: Ich kann ja gar nichts sehen!

Kasper (zum Publikum): Pah Kinders, kann man eine Seele sehen?

(zum Teufel): Siehste, ne Seele kannste nich sehn, die is unsichtbar.

Teufel schiebt den Kasper zur Seite und steckt einen Arm in den Eimer

Teufel: Ich kann auch nichts fühlen.

Kasper: Pah, du Materialist!

(zum Publikum): Leute, kann man eine Seele mit den Händen fühlen?

(zum Teufel): Siehste, eine Seele ist zart und poetisch, die kannste nich mit den Händen fühlen! Du mußt mal Eugen Drewermann lesen, der hat 100 Bücher darüber geschrieben!

 

 

 

Ich möchte nicht so sehr über den Kasper schreiben, auch nicht über die lustige Figur. Ich möchte vielmehr so schreiben, wie einer, der sich seit 30 Jahren dem Kasperspiel versprochen und hingegeben hat. Das soll ganz unwissenschaftlich sein, am ehesten noch einem Gedicht vergleichbar.

 

Dabei schreibe ich auch wie einer, den es seit seiner Kindheit danach drängt, den Sinn vom Leben und Sterben zu verstehen. „Verstehen“?, nein, das ist nicht das richtige Wort. Im „Stehen“ ist zu wenig Bewegung. Ich bin doch kein Baum. Sagen wir besser „erfahren“. Oder müssen wir dabei gleich an Autos denken? Das wäre bös!

 

Mir sind durch das Kasperspielen so viele Geschenke zuteil geworden, dass mir das Herz und der Mund voll davon sind. Vor allem beim improvisierten Spiel, das ohne festen Text nur den roten Handlungsfaden in der Hand hält, aber auch beim vorbereitenden Lesen fühle ich mich nicht selten von Geschenken des Staunens und der Freude überhäuft.

Vielleicht liegt das daran, dass Märchen, Mythen und Legenden, so wie wir sie in unsere Kasperstücke einfließen lassen, um ein vielfaches langlebiger sind als wissenschaftliche Theorien oder Ideologien.

 

Ich nehme den Kasper nicht historisch (das ist er natürlich auch), ich nehme den Kasper als ewig. Ich erlaube mir diesen irrationalen Schritt, den meine rechte Hirnhälfte fordert, während die linke ihn nicht verstehen kann. Das Fingerzählsystem des Digitalen, welches man zusammen mit dem kausalen Denken der linken Gehirnhälfte zuordnet, kommt da nicht mit.

 

Der Kasper ist so alt wie die Menschheit, mit Adam schon war er da.

Und vorher? Ja vorher, da war er im Nichts! (Weil das Zeitalter der Religion zu Ende geht, kann ich kaum sagen: „Er war bei Gott .“) Meiner inneren Erfahrung folgend kann ich jedoch sagen: „Der Kasper war im Ewigen und ist es noch heute und für alle Zeit.“

 

Das, was wir wissen, ist im günstigen Fall die Spitze des Eisberges. Und wird nicht unser Bewusstes gelenkt von dem, was der Berg als Verborgenes birgt? Ich weiß gerade genug, um zu staunen und mich an den Wundern der Poesie und des Kasperspiels zu erfreuen.

 

Kasper ist der Mittelpunkt des Geschehens. Er ist wie die Sonne im Sonnensystem. Dabei verkörpert er nichts Männliches, sondern etwas in jedem, ob Mann oder Frau. Im „Gretel-Theater“ wird der Kasper „Gretel“ genannt. Man soll die Umhüllung nicht mit dem Kern verwechseln. Im Kern ist der Kasper nicht männlich oder weiblich. Er ist männlich in seiner Erscheinung. Seine Patsche, auch Slapstick, Joystick oder Lebensrute genannt, ist natürlich auch ein Phallussymbol – als solches gehört es allerdings zu jeder Frau und zu jedem Mann gleichermaßen. Ich verstehe den Kasper innerlich, das heißt als Teil und Zentrum einer Seelenlandschaft, die es in jedem gibt. Heißt es nicht auch, in jedem Menschen sei die ganze Welt, die sichtbare und die unsichtbare?

 

Ich sehe unsere schwarze Kasperbühne* als einen Kasten, in dem Unsichtbares sichtbar wird. Was sich in der Seele und zumeist im Unbewussten eines Menschen abspielt, erscheint hier bei geöffnetem Vorhang. Das, was unten zu ruhen scheint, kommt plötzlich nach oben. Auf einmal ist der Teufel da oder die Hexe, und sie kommen, wie der Kasper sagt, meist von hinten und von unten.

Kaspers Grundrecht auf Schlägereien und Verfolgungsjagden hat mit einer frühen Phase im Leben eines Menschen und vielleicht auch der Menschheit als ganzes zu tun, aus welcher seine Lebendigkeit gespeist wird. Ich meine die Zeit der ersten Lebensmonate bis vielleicht ins vierte Lebensjahr. Bezeichnenderweise sind Verfolgungsträume in der Kindheit vorherrschend.

 

Kaspers Lebendigkeit drückt sich in einer ganz eigenen Wehrhaftigkeit aus. Kasper ist kein Angreifer. Doch wer ihn bedrängt, lernt sowohl seinen Wortwitz, als auch seine Waffensammlung kennen. Was die frühe Kindheit angeht, spricht die Entwicklungspsychologie von der oralen Phase, in der das Nährende und Behütende, und der analen Phase, in welcher die Reinlichkeitserziehung im Mittelpunkt stehen. Tatsächlich stammen Kaspers Lieblingswaffen aus dem Küchen- und Sanitärbereich. Mit der Bratpfanne gibt es einen gebraten, und mit der Klobürste, die Kasper als „Zahnbürste“ bezeichnet, werden dem Teufel und der Hexe die Zähne geschrubbt. Die Patsche oder auch die „Lebensrute“, wie Friedrich Arndt sagte, gehört in die spätere genitale Phase. Dabei ist es wichtig, dass sie nicht tötet, sondern die Lebensgeister weckt. Es gehört zum Geheimnis des Bösen, dass es keinen Sinn macht, es auszurotten. Was wäre das Theater ohne Teufel, ohne Räuber und Hexe. Für einen Tag kannst du sie besiegen, doch am nächsten sind sie wieder da. Gott sei Dank!

 

Feuerwaffen, sprich „heiße Waffen“, lehnt der Kasper ab, auch wenn das kindliche Publikum immer wieder nach ihnen verlangt. Er benutzt nur „kalte Waffen“, wie zum Beispiel den Fleischklopfer.

 

Noch einmal: Ich sehe den Kasper als etwas außerordentlich Wichtiges in jedem Menschen, etwas, das als Kern in uns lebt. Wachstum und Erneuerung gehen von diesem Kern aus. Mit Eric Bern** könnte ich den Kasper auch als das „freie Kind“ bezeichnen, das weder durch Angst brav angepasst, noch durch Wut rebellisch angepasst ist. Der Kasper folgt seinen Grundbedürfnissen*** und lässt sich nicht von Nebenschauplätzen ablenken. Dabei ist er nicht nur Kind, sondern auch erwachsen genug, um zu sehen, dass die Welt, in der er lebt, eine Welt von „Verwachsenen“ ist.

 

Die moderne „Zuvielisation“ stellt das Menschsein auf den Kopf. Nicht nur Kinderseelen werden als moderne Menschenopfer auf den Altären der Anerkennung, Leistung und Karriere dargebracht. Es ist die „verkehrte Welt“, in der Kasper sich (wie der Narr) wohlfühlt. Das ist seine Art „über das Wasser zu gehen“, also in gewissem Sinne über der Zeit zu stehen. Er ist der Garant des Lebendigen in uns. In der Psychologie C. G. Jungs ist der Kasper ein Archetyp, der als das „ewige“ oder das „göttliche Kind“ bezeichnet ist. Herodes macht eine erbarmungslose Jagt auf ihn und mordet doch alle Kleinkinder vergeblich. Am Ende ist Herodes vergessen und das Neugeborene hat überlebt. Das Weihnachtsfest kann als das Fest des sich erneuernden Lebens gesehen werden, und damit wäre der 24. Dezember auch Kaspers Geburtstag (oder auch der 21. Dezember, wenn wir die christliche Festverschiebung nicht mitspielen).

 

Tja – und was ist die Botschaft dieses Messias mit dem Holzkopf: Lasst uns froh sein, weil alles ein Wunder ist, weil jeder Tag wundervoll ist!

Und lasst uns dabei nicht süßlich sein, so wie Mutti es sich wünscht: das Kaschperle, adrett schon für Dreijährige. Nein, jeder Wundertag ist ein ernstes Abenteuer, ein Kampf mit der Unterwelt (Teufel, Hexe und das alles verschlingende Krokodil), mit den Beschützern der sozialen Ungerechtigkeit (Bürgermeister und Polizist) mit dem Pfuinanzamt, mit den Rechtsverdrehern, und natürlich auch ein Kampf mit den Räubern und Wegelagerern, die als Versicherungs- und Bankfachleute auftreten.

Da vergeht eine ganze Theatervorstellung damit, dass der Teufel Kaspers Seele haben, oder die Hexe den süßen Kasper betuddeln und beknuddeln möchte. Welch eine Freude, wenn das eine Stunde dauert, bis das nicht gelingt! Der Kasper schöpft und lebt aus einer kindlichen Schicht, die in jedem Menschen wirkt. Diese scheint dem Jenseitigen und dem Verborgenen näher zu sein als unser Bewusstsein. Daher Kaspers Arglosigkeit und sein grenzenloses Vertrauen ins Leben, ja daher seine Freude.

 

Es gibt so viele Kasper, wie es Spieler gibt, die sie schaffen. Der eine lässt den Kasper verheiratet, der andere lässt ihn ledig sein. Der nächste Spieler lässt ihn schwul sein, der übernächste lässt ihn in einer wilden Ehe leben. Es soll jeder auf seine Art Kasper spielen. Im Äußeren ist der Kasper mehrdeutig und trägt von Zeit zu Zeit und von Land zu Land andere Namen. Seine Frau wird oft Gretel genannt, bei uns in Münster heißt sie Marie. Dem Ursprung nach ist Kaspertheater kein Kindertheater, auch wenn es heute in erster Linie so gesehen wird. Wenn der Kasper, ähnlich wie die Märchen, in die Kinderecke abgeschoben wird, so schützen wir uns gleichsam vor dem unbequemen Potential, dem Gespenst der unverstellten Ehrlichkeit, das der Kasper in uns wachrufen könnte. Dass Kinder ihn lieben, liegt auf der Hand. Er ist ihnen nah und ähnlich, wie er auch dem Kind in jedem Erwachsenen nah ist.

 

Wilfried Plein, Charivari Theater

Münster, 1989

 

 

Fußnoten

* Bis 2018 spielten wir in unserem Theater in Münster immer noch in der alten Vorkriegsbühne von Karl Pechaschek aus Ratzeburg, eine schwarze Guckkastenbühne mit rotem Vorhang.

 

** Eric Bern, Spiele der Erwachsenen, Hamburg 1970

 

*** Der Psychotherapieforscher Klaus Grawe zählt 4 Grundbedürfnisse des Menschen

1. Bedürfnis nach Autonomie, Kontrolle und Orientierung

2. Bedürfnis nach Bindung und Beziehung

3. Bedürfnis nach Anerkennung u. Erhöhung des Selbstwertes

4. Bedürfnis des Strebens nach Wohlbehagen, Gesundheit und Glück könnte man hinzufügen: das Bedürfnis, Einsicht zu haben in einen sinnvollen Zusammenhang des Ganzen

 

 

Der Kasper – in vielen Kulturen zuhause

UNIMA-Gedenktafel in Prag:

Tchantchès (Belgien), Pulcinella (Italien), Punch (England), Kašpárek (Tschechische Republik), Kasper (Deutschland), Guignol (Frankreich), Karagoz (Türkei) v.l.n.r.

 

Foto: Adam Jones, Ph.D.

 

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File: UNIMA Sign – Marionettes Union – Prague – Czech Republic.jpg

Erstellt: 2009-11-09

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